„Der Ozean am Ende der Straße“ – Neil Gaiman

“ … Ich sah die Erde, auf der ich mich seit meiner Geburt aufgehalten hatte, und ich begriff, wie zerbrechlich sie war – die Realität, die ich kannte, war eine dünne Glasur auf einem Geburtstagskuchen, in dem es vor Maden und Albträumen und Hunger nur so wimmelte. … “ (Seite 264)

Sussex, England. Ein Mann kehrt in seinen Heimatort zurück. Wie durch Magie zieht es ihn zu der Farm am Ende der Straße. Dort ist ihm damals ein bemerkenswertes Mädchen begegnet: Lettie Hempstock. Der Mann hat seit Jahrzehnten nicht mehr an sie gedacht. Doch nun, als er an dem Teich sitzt, der angeblich ein Ozean sein soll, kehren die Erinnerungen wieder zurück. Erinnerungen an eine Welt, in der Menschen nichts zu suchen haben. Und in der etwas Böses lauert, das seine Finger nach ihm ausstreckt …

Ein namenloser Mann in den 40-ern kehrt zu einer Beerdigung nach Hause zurück. Das Haus, in dem er seine Kindheit verbracht hat, steht schon lange nicht mehr, aber seine Füße tragen ihn zielsicher zur alten Hempstock-Farm, auf der damals Lettie gelebt hat, auch sie ist längst weg. Doch ihre Mutter und ihre Großmutter sind noch da, genauso wie jede Menge Erinnerungen, die plötzlich zurückkommen.

Mit sieben hat man es nicht leicht, vor allem nicht, wenn keiner der Klassenkameraden zur Geburtstagsparty auftaucht und das Kätzchen, dass man geschenkt bekommen hat vom seltsamen Untermieter überfahren wird, für den man sein Zimmer räumen musste. Der Ich-Erzähler hat keine glückliche Kindheit und auch der Tag, an dem er Lettie trifft, beginnt alles andere als toll. Das ältere Mädchen scheint genau zu wissen, was er braucht und auch ihre Mutter und Großmutter nehmen ihn mit offenen Armen auf. Die drei Frauen sind ein wenig merkwürdig, fast so, als würden sie aus einer anderen Zeit kommen, aber sie sind freundlich und fürsorglich. Und während zu Hause das Leben immer mehr aus den üblichen Bahnen gerät, flüchtet er sich zu Lettie und in ihre ganz eigene Welt, doch auch die ist nicht ungefährlich.
„Der Ozean am Ende der Straße“ lässt sich nicht wirklich in eine Schublade stecken, er ist Fantasy, genauso wie Coming of Age und ein bisschen Drama. Das Buch erzählt von Verlust, Gewalt, aber auch von Freundschaft und davon, füreinander einzustehen. Es erinnert uns daran, dass es uns als Kinder so leicht fällt, zu glauben ohne alles zu hinterfragen, während wir als Erwachsene einfach vergessen oder verdrängen und sich die Erinnerung trotz allem irgendwann ihren Weg bahnt und uns überrumpelt. Vor allem aber erzählt es von zwei Außenseitern, denn sowohl der Junge, der keine Freunde hat und sich in seinen Büchern verkriecht, als auch Lettie sind Sonderlinge, sie gehören nirgendwo dazu und genau das schweißt sie zusammen. Ich glaube tatsächlich, Neil Gaiman hat so viel in dieses Buch gepackt, dass sich hier jeder seinen ganz persönlichen Teil herauspicken und seine eigenen Überlegungen dazu anstellen kann. Es gibt so viele Möglichkeiten, diese Geschichte zu interpretieren. Aber vielleicht muss man das auch gar nicht, vielleicht reicht es schon aus, einfach in den Bann von Lettie zu geraten und sich verzaubern zu lassen. Sie und ihre Familie sind so anders, so durch und durch liebenswert, herrlich schrullig und durchaus auch ein wenig düster. Düster ist auch die Handlung, wenn auch wunderschön poetisch erzählt, was aus dem Klappentext jetzt nicht unbedingt hervorgeht. Es ist eben ein typischer Gaiman und der setzt seinen Lesern meist nicht unbedingt leichte Kost vor, seine Bücher werfen Fragen auf und beantworten nie alle, genau dafür liebe ich ihn.

„Der Ozean am Ende der Straße“ ist eine wunderschöne, berührende Geschichte mit liebenswerten, aber auch furchteinflößenden Charakteren, die viel Spielraum für Interpretationen lässt. Ich besitze die illustrierte Ausgabe, eine richtige Augenweide, denn Elise Hurst fängt mit ihren Bildern die Stimmung einfach perfekt ein. Aber auch ohne die Zeichnungen ist das Buch eine absolute Leseempfehlung und bekommt von mir wohlverdiente 4,5 von 5 Miezekatzen.

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