“ … Ich glaube, für Liebe gibt es immer einen Grund, Hass jedoch ist mitunter einfach da. Wie eine Art vagabundierendes Übel. … “ (Seite 727)
„Ich bin mir sicher, dass ich diese Geschichte erzählen kann.
Sicher bin ich mir allerdings auch, dass niemand sie
glauben wird. Das macht nichts. Es reicht mir, sie zu
erzählen. Das Problem ist nur: Wo anfangen?
Wenn ich jetzt darüber nachdenke, sehe ich deutlich einen
roten Faden, der durch die Jahre zu dem Schuppen
hinter der maroden viktorianischen Villa führt. Ein Faden
aber ist leicht zu zerreißen. Also kein Faden,
sondern eine Kette. Eine starke. Und ich war der Junge mit
der Fessel ums Handgelenk.“
Charlie hat es nicht leicht. Nach dem Unfalltod seiner Mutter verfällt sein Vater dem Alkohol und es dauert Jahre, bis er endlich den Absprung aus der Sucht schafft. Inzwischen ist Charlie 17, ein guter Schüler, Sportler. Als er eines Tages aus der Richtung einer alten Villa merkwürdige Geräusche hört, geht er nachschauen und muss feststellen, dass Mr. Bowditch, der griesgrämige alte Besitzer des Grundstückes von der Leiter gefallen ist und Hilfe braucht. Bowditch landet im Krankenhaus und Charlie kümmert sich in der Zeit um dessen auch nicht mehr junge Schäferhündin. Radar hat ihre besten Jahre hinter sich, sie ist alt und eigen, ganz wie ihr Herrchen, aber sie stiehlt sich in Charlies Herz und als Bowditch stirbt und Charlie seinen Hund vermacht, muss er eine schwere Entscheidung treffen.
Eins gleich zu Beginn: auch wenn ich mich immer bemühe, nicht zu spoilern, ist hier jedes Wort zum Inhalt eigentlich schon zu viel. Solltest du das Buch also noch nicht gelesen haben, halte dich lieber von Rezensionen fern, auch von meiner, das erhöht den Lesegenuss um einiges.
Ein Junge und sein Hund, auf den ersten Seiten von „Fairy Tale“ musste ich sofort an „Devoted“ denken. Was Dean Koontz mit seinem Buch nicht gelang, schafft Stephen King mit links, denn im Gegensatz zu Kipp, zu dem ich überhaupt keine Verbindung aufbauen konnte, habe ich Radar sofort ins Herz geschlossen, was dazu führte, dass ich zumindest in der ersten Hälfte immer wieder geheult habe wie in Schlosshund. Wer selbst Tiere hat, weiß, wie es ist, wenn sie alt werden, nach und nach abbauen und man irgendwann weiß, dass nicht mehr viel gemeinsame Zeit übrigbleibt.
Aber zurück zum Hund und dem alten Mann. Um beide kümmert sich Charlie sehr aufopfernd und nach Radar lässt auch Bowditch den Jungen an sich heran, notgedrungen, denn er braucht Hilfe. Und wie bei King so üblich, weiß der mürrische Alte durchaus zu überraschen und weist dem Jungen den Weg in eine Welt, die sich von der unseren gehörig unterscheidet. Empis, das düstere Märchenland, dem Charlie einen Besuch abstatten muss, um seinen Plan in die Tat umzusetzen. „Fairy Tale“ besteht aus also aus zwei Teilen, der erste spielt in unserer Welt und wir lernen Charlie, Mr Bowditch und Radar kennen und Schritt für Schritt wird klar, dass Bowditch ein Geheimnis hat. Ich habe diesen Abschnitt geliebt, er kommt recht ruhig daher, auch wenn sich hin und wieder merkwürdige Ereignisse ankündigen.
Der zweite Teil führt dann in jene Anderswelt, in der es alles andere als märchenhaft zugeht. Die Stimmung schlägt komplett um, es wird düster, blutig, unangenehm und für mich ein wenig zu vorhersehbar und klischeehaft. Versteht mich nicht falsch, ich mag die Geschichte immer noch, aber trotz Magie hat sie hier für mich ein wenig von ihrem Zauber verloren. Und ich vermisse Radar, die vorher fester Bestandteil der Handlung war. Statt Hund gibt es jetzt viel Charlie, aber der hat sich verändert, angepasst und ich bin mir nicht sicher, ob ich sein neues Ich wirklich mag. Was ich hingegen sehr mochte, waren die Bewohner dieses Reiches, in dass es den Jungen verschlagen hat. Wer gut aufpasst, wird in ihnen die eine oder andere Märchenfigur erkennen.
King lässt sich, wie üblich, viel Zeit mit der Einführung seiner Figuren, in unserer Welt und auch in der anderen, ein Punkt, den viele ihm immer wieder ankreiden. Ich für meinen Teil mag es, wenn er abschweift, kleine Haken schlägt um dann wieder zum Geschehen zurückzukehren, dass macht die Charaktere in seinen Büchern so lebendig. Und er greift gern auf bestimmte Typen zurück. So musste ich bei Bowditch zum Beispiel sofort an John Harrigan aus „Mr. Harrigan’s Phone“ denken. Was wiederum dazu führt, dass es sich jedes Mal, wenn ich ein neues Buch aufschlage so ein bisschen wie nach Hause kommen anfühlt und das ist verdammt großartig.^^
Dass Stephen King immer noch schreiben kann, hat er mir mit „Fairy Tale“ mehr als bewiesen.
„Es gibt andere Welten als diese.“ sagt Jake im Dunklen Turm Zyklus zum Revolvermann, Empis ist eine davon, faszinierend, düster, gefährlich, aber voll von liebenswerten Charakteren. Und auch wenn ich persönlich den ersten Teil von „Fairy Tale“ lieber mochte, hoffe ich doch, dass diese Geschichte noch nicht zu Ende erzählt ist und der Meister irgendwann nochmal nach Empis zurückkehrt. Bis dahin vergebe ich wohlverdiente 4,5 von 5 Miezekatzen, ehm, nein, Schäferhunde natürlich.^^